Ist Quidditch wirklich inklusiv?
ein Kommentar von Daniel Knoke
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Quidditch ist gar nicht so ein inklusiver Sport wie immer behauptet wird. Diese durchaus provokante These mag auf den ersten Blick verwundern, doch wer länger über das Thema nachdenkt, muss zu dem Schluss kommen: Quidditch ist in vielen Teilbereichen überhaupt nicht inklusiv.
Wenden wir uns zunächst dem wichtigsten Thema zu, über das sich die Community durchaus auch identifiziert. Das Thema Gender-Inklusivität. Der Besensport zeichnet sich dadurch aus, dass Menschen aller Geschlechter gleichberechtigt diesen Sport betreiben können. Dabei werden ausdrücklich auch immer Menschen einbezogen, die sich nicht im binären Geschlechtssystem von Mann und Frau verorten. Hier leistet Quidditch einen sehr positiven Beitrag für die Gesellschaft. Daran gibt es nichts zu rütteln. All die positiven Menschen, die sich dauerhaft in die Quidditch-Community einbringen und das Thema Gender-Inklusivität voranbringen, leisten ihren Beitrag, um die Welt jeden Tag ein bisschen besser zu machen. Wie wichtig das ist, zeigt sich aktuell in der Tatsache, dass sich gerade in Polen immer mehr Regionen zu „LGBT freien Zonen“ erklären.
Braucht die Gender-Rule eine Reform?
Beim Kampf für die Rechte all dieser Menschen ist Quidditch definitiv Vorreiter gegenüber anderen Sportarten. Schließlich werden Menschen aller Geschlechter im Quidditch nicht nur akzeptiert, es wird dank der Gender-Rule sogar sichergestellt, dass es jederzeit eine gewisse Diversität auf dem Spielfeld gibt. Maximal vier Personen eines Geschlechts dürfen gleichzeitig auf dem Feld stehen. Da beim Quidditch immer sechs (bzw. ab der 18. Spielminute sieben) Menschen eines Teams auf dem Pitch stehen, ist sichergestellt, dass der Sport tatsächlich auch gemischtgeschlechtlich gespielt wird.
Doch genau hier fangen die Probleme an. War es vor einigen Jahren zumindest im deutschen Quidditch noch so, dass häufig zum Beispiel mit 3 Frauen und 3 Männern gespielt wurde oder die Männer sogar in der Unterzahl waren, so hat sich dieser Trend in den vergangenen Jahren leider umgekehrt. Vor allem bei den Top-Teams, die ihren Fokus auf kompetitive Spielweise legen, ist zu beobachten, dass fast ausschließlich nur noch mit vier Männern gespielt wird. Den Frauen oder den nicht binären Personen bleibt leider häufig nur noch eine Statisten-Rolle. Natürlich gibt es zahlreiche Gegenbeispiele, wo nicht-männliche Personen durchaus dominant das Spiel prägen und herausragend wichtig für ihr Team sind. Ein leuchtendes Beispiel in Europa sind die METU Unicorns aus der Türkei, wo die weiblichen Spielerinnen beim vergangenen European Quidditch Cup so eindeutig dominiert haben, dass man sich dieser Begeisterung kaum entziehen kann. Doch genau durch dieses positive Beispiel wird die generelle Fehlentwicklung umso offensichtlicher.
Wir verlieren unsere Females
Nicht umsonst kam genau nach diesem European Quidditch Cup die Diskussion um weibliche Spielerinnen auf, die in der Losung „Play your females or lose your females“ mündete. Und tatsächlich ist die Entwicklung auch in Deutschland häufig besorgniserregend. Man könnte sogar so weit gehen zu sagen: Wir sind gerade dabei unsere Females zu verlieren. Wenn man sich die Trainingsbeteiligung Top-Teams anschaut stellt man häufig fest, dass sich die Entwicklung schon im Training zeigt. Oft sind viel mehr männliche Personen beim Training als nicht-männliche. Als konkretes Beispiel können hier die Berlin Bluecaps genannt werden, da der Autor dieser Zeilen selbst Teil der Bluecaps ist. Wenn der Eindruck nicht täuscht, war in den vergangenen Monaten das Verhältnis meistens wie folgt: Zwei Drittel männliche Trainingsteilnehmer und ein Drittel nicht-männliche. Oft war das Verhältnis sogar noch krasser im Ungleichgewicht.
Diese Entwicklung mag überraschen, ist aber leicht zu erklären. Wer bei Spieltagen und Turnieren wenig Spielzeit bekommt, kommt natürlich auch seltener zum Training. Die Motivation sinkt. Insofern kommt ein Antrag für die nächste DQB-Vollversammlung genau zur richtigen Zeit. Dieser fordert die Gender Rule so umzuändern, dass maximal drei Personen eines Geschlechts gemeinsam auf dem Platz stehen dürfen. Der Antrag ist natürlich kontrovers zu diskutieren und hat sicherlich auch seine Nachteile, aber grundsätzlich wäre ein solcher Beschluss ein sehr starkes Zeichen. Denn immer mehr Teile der Community erkennen die Entwicklung: Unser Sport ist zumindest auf dem Pitch nicht so Gender-inklusiv wie wir vielleicht dachten.
Die große Mehrheit hat einen deutschen Pass
Doch wie sieht es auf anderen Feldern aus? Auch hier zeigen sich leider schnell Defizite. Wenn man sich auf großen deutschen Quidditch-Turnieren umschaut, haben die meisten Menschen ein „bio-deutsches“ Aussehen. Schaut man sich die belastbaren Fakten an, dann haben aktuell von 52 Menschen, die für die Berlin Bluecaps beim DQB gemeldet sind, 44 einen deutschen Pass. Das ist für eine multikulturelle Großstadt wie Berlin eine sehr erstaunliche Zahl. Ist Quidditch also nicht inklusiv für Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund? Diese Frage sollte zumindest gestellt werden. Denn schließlich sieht das Bild bei Mainstream-Sportarten wie Basketball deutlich anders aus. Die Gründe dafür sind ganz sicher nicht im fehlenden Willen zu finden, Menschen aus anderen Kulturkreisen zu integrieren. Trotzdem bleibt der Befund erstmal bestehen.
Ein weiterer Punkt ist das liebe Geld. Können sich Quidditch nur Menschen der Mittel- und Oberschicht leisten? Provokant gefragt: Ist Quidditch für arme Menschen einfach zu teuer? Der Vorwurf hier nicht inklusiv zu sein, wäre gerade für die deutsche Quidditch Gemeinschaft sehr unfair. Schließlich werden auf so ziemlich allen deutschen Turnieren Turnhallen als sehr günstige Übernachtungsmöglichkeiten angeboten. Trotzdem bleibt das Thema Geld ein Problem. Schließlich steigen die Playerfees und Teamfees durchaus kontinuierlich. Quidditch wird also immer teurer. Hinzu kommt, dass es Kosten gibt, die kaum flexibel sind. Die durchschnittliche Anreise zu einem Quidditch-Spiel (egal ob Turnier oder Spieltag) sind oft mehrere hundert Kilometer. Für die Berlin Bluecaps gab es in der vergangenen Saison zum Beispiel keinen einzigen Ligaspieltag (außer dem eigenen) und kein Turnier, wo nicht mehrere hundert Kilometer zurückgelegt wurden. Die kürzeste Distanz zu einem Ligaspieltag war die Fahrt in das 169 Kilometer entfernte Halle.
Ein Monatsgehalt für Quidditch-Fahrten
Falls man solche Fahrten auch noch umweltverträglich mit der Bahn zurücklegen will, kommt man mit etwas Pech schnell auf einen dreistelligen Betrag für Hin- und Rückreise. Wenn man diese Kosten für diverse Ligaspieltage, zwei bis drei Turniere und vielleicht noch das eine oder andere Fantasy-Turnier addiert, landet man schnell bei einem durchschnittlichen Monatsgehalt im Jahr, das nur für Quidditch-Reisen draufgeht. Hier haben es etablierte Sportarten wie zum Beispiel Handball natürlich viel einfacher, weil es einfach in jedem Stadtteil und jedem Dorf einen Handballverein gibt. Die Distanzen sind extrem geringer.
Wie sensibel das Thema Geld ist, wurde erst kürzlich bei der Diskussion über das Thema Trading Cards beim European Quidditch-Cup deutlich. Hieraus irgendwelche Vorwürfe abzuleiten, wäre extrem unfair. Doch auch hier bleibt der Befund bestehen: Auch was finanzielles Budget angeht, ist Quidditch wenig inklusiv.
Wachstumschancen können gleich mehrere Probleme lösen
Ein letztes Thema ist das Thema Bildung. Ist Quidditch ein Sport ausschließlich für Studierende? Zu diesem Thema verlässliche Zahlen zu finden, dürfte schwierig werden. Doch dass Quidditch hier wenig inklusiv ist, dürfte auf der Hand liegen. Schließlich haben sich viele Teams aus dem Hochschulsport heraus entwickelt oder sind immer noch innerhalb dessen organisiert. Gefühlt ist es so, dass 90 Prozent der Menschen, die Quidditch spielen, studieren oder in der Vergangenheit studiert haben.
Wer den Sport nicht im eigenen Hochschulsport kennengelernt hat, ist vielleicht bei einem Auslandssemester darauf gestoßen. Nun ist es natürlich so, dass Menschen, die zum Beispiel eine Ausbildung zum Frisör absolvieren, kein Auslandssemester machen und auch nicht am Hochschulsport teilnehmen. Diese Menschen haben eine durchaus geringere Chance diesen wunderbaren Sport kennenzulernen. Auch hier ist Quidditch bislang wenig inklusiv.
Doch genau hier liegt vielleicht die größte Chance aus der Erkenntnis, dass Quidditch in vielen Bereichen durchaus inklusiver werden kann. Wenn es der Sportart gelingt, künftig noch mehr Menschen anzusprechen, die kein Studium vorzuweisen haben, könnte dies einige Probleme lösen. Wenn mehr Menschen Quidditch spielen und mehr Teams entstehen, verringern sich die Anfahrtswege zu Spieltagen (eine Berlin-Liga wäre ein Traum) und die Kosten sinken. Wenn mehr Menschen Quidditch spielen, sind darunter vielleicht auch viele nicht-männliche Personen und das Verhältnis der Geschlechter wird wieder ausgeglichener. Es wäre diesem wunderbaren Sport zu wünschen.