Calcio Storico – Sport oder Keilerei?
Calcio Storico heißt auf Deutsch etwa so viel wie „historischer Fußball“. Doch mit Fußball hat dieser Sport wenig zu tun. In der deutschen Wochenzeitung „Die ZEIT“ wurde Calcio Storico einmal als „üble Keilerei, getarnt als Sport“ bezeichnet – das trifft es schon eher. Schließlich geht es bei diesem Sport darum, einen Ball im gegnerischen Netz zu platzieren, ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit.
Häufig wird der Sport als Mischung aus Rugby, Boxen und Ringen beschrieben. Das lässt schon erahnen, dass Calcio Storico viel Raum für Körperkontakt bietet. Tatsächlich gestaltet sich das Regelwerk übersichtlich.
Zwei Teams mit jeweils 27 Spielern (die alle gleichzeitig auf dem Feld sind) treten gegeneinander an. Beide Teams versuchen den runden Spielball mit Schießen, Werfen oder Tragen vorwärts zu bewegen. Ziel ist ein Netz, das am Ende des Spielfelds jeweils über die komplette Breite des Spielfelds gespannt ist. Dort muss der Ball abgelegt oder reingeworfen werden. Trifft der Ball ins Netz gibt es einen Punkt. Landet der Ball über dem Netz, gibt es immerhin einen halben Punkt.
Klingt zunächst einfach, schwierig wird das Spiel durch die Tatsache, dass so ziemlich alles erlaubt ist, um den Ballträger zu stoppen. Er darf getackelt werden wie beim Rugby (allerdings nur von vorne), er darf aber auch mit Faustschlägen attackiert werden, getreten werden oder ganz klassisch in Ringer-Manier zu Boden gerungen werden. Verboten sind nur Angriffe von hinten und Tritte gegen den Kopf.
Erlaubt ist es hingegen auch, einen gegnerischen Spieler zu attackieren, der mit dem Ball gar nichts zu schaffen hat. So kann es passieren, dass völlig abseits des Geschehens eine persönliche Fehde eskaliert und ein Boxkampf ausbricht, der auf den Verlauf des Spiels keinen direkten Einfluss hat.
Nach 50 Minuten Rauferei ist das Spiel beendet. Unterbrochen wird das Spiel nur, wenn Sanitäter den Platz betreten müssen. Das allerdings, wir ahnen es schon, passiert gar nicht so selten.
Wer sich nun denkt, dass es bei dieser Brutalität kein Wunder ist, dass der Sport unpopulär ist, der liegt nur zum Teil richtig. Unpopulär ist der Sport tatsächlich. Das hat allerdings nur bedingt mit der Brutalität zu tun.
Calcio Storico wird ausschließlich in der italienischen Stadt Florenz gespielt und das nur einmal im Jahr. Das hat traditionelle und religiöse Gründe. Jedes Jahr am 24. Juni treten vier Teams in zwei Halbfinalspielen und einem Finale gegeneinander an. Die vier Teams repräsentieren die vier historischen Stadtviertel der toskanischen Stadt und deren Farben.
Dementsprechend treten jedes Jahr aufs Neue die Weißen gegen die Roten, die Blauen und die Grünen an. Wer gegen wen spielt, wird ausgelost. Die Spiele finden auf der Piazza Santa Croce vor der Franziskanerkirche Basilica di Santa Croce im Zentrum von Florenz statt, dazu wird der Platz mit Sand bedeckt.
Für die Stadt sind die Spiele jedes Jahr ein großes Ereignis. Das Publikum steht zu Tausenden auf den temporären Tribünen. Seit dem 15. Jahrhundert findet das sportliche Ereignis jedes Jahr am 24. Juni statt. Bestrebungen den Sport auch über die Stadtgrenzen hinaus zu tragen gibt es immer mal wieder.
Doch natürlich wirkt die Brutalität auf viele Menschen abschreckend – übrigens auch ein Grund warum die Spiele bislang nie live im italienischen Fernsehen übertragen wurden. Dementsprechend gibt der Präsident des weißen Teams, Marco Baldesi, im eingangs erwähnten ZEIT-Text unumwunden zu: "Natürlich hat der Sport ein Imageproblem.“
Das Ziel von Baldesi ist es, Calcio Storico sportlicher werden zu lassen, damit die Keilerei in den Hintergrund rückt. Der Sport soll international bekannter werden. In der französischen Hafenstadt Marseille gab es schon ein Vorführ-Spiel. Doch wie bei fast allen unpopulären Sportarten wird die Wachstumsfrage zwiespältig gesehen. Einerseits will man schon populärer werden, aber andererseits soll sich auch nicht zu viel verändern.
Wohin der Weg für diese einzigartige Sportart führt, ist also noch völlig offen. Für den Moment bleibt der Status Quo erhalten: Sobald man die Stadtgrenze von Florenz hinter sich lässt, wird Calcio Storico schlagartig zu einem der unpopulärsten Sportarten der Welt.