Daniel MUSterman denkt nach … über einen Marathon-Sieg mit Strichnin und Brandy im Blut
von Daniel Knoke
Warum berichten wir bei MUS über unpopulären Sport? Unter anderem auch, weil es im unpopulären Sport nur so von kuriosen Geschichten und verrückten Anekdoten wimmelt. Einige der besten Geschichten sammeln wir in der neuen Rubrik „Abenteuer Sport“. In dieser Kolumne möchte ich jedoch über einen Sport berichten, der inzwischen längst populär ist. Er ist nicht nur populär, sondern sogar ein kommerzielles Massenevent. Nein, es geht nicht um Fußball, sondern um den Marathonlauf.
Zehntausende Menschen gehen bei jedem einzelnen Marathon in den Metropolen dieser Welt an den Start. In den nächsten Tagen wird der olympische Marathonlauf wieder viele Millionen Menschen auf der ganzen Welt in seinen Bann ziehen. Marathonlaufen ist also definitiv populär. Doch das war nicht immer so.
Richtig spannend, lustig und interessant wird es, wenn wir das Rad der Zeit um genau 117 Jahre zurückdrehen. Damals war Marathonlaufen definitiv noch ein unpopulärer Sport, was allein schon an einer einzigen Zahl deutlich wird: 32. So viele Athleten nahmen nämlich bei den Olympischen Spielen 1904 am Marathon der Männer teil. Einen Frauenwettbewerb gab es nicht.
Doch dieser Marathonlauf der Männer muss dafür erstklassiges Entertainment geboten haben. Als erstes im Ziel war Frederick Lorz aus den USA. Er ließ sich schon feiern, machte ein Siegerfoto mit Alice Roosevelt (Tochter des damaligen US-Präsidenten) und nahm Glückwünsche entgegen. Doch dann stellte sich heraus: Er hatte wesentliche Teile der Strecke in einem Auto zurückgelegt.
Dummerweise fuhr Lorz nicht in irgendeinem Auto, sondern in einem offiziellen Begleitwagen. Nachdem der Begleitwagen nach 19 Kilometern eine Panne hatte, stieg er einfach wieder aus und lief an der Spitze des Feldes mit. Der Schwindel fiel dann allerdings doch recht schnell im Ziel auf, weshalb der US-Amerikaner disqualifiziert wurde. Später wurde er für ein Jahr gesperrt.
Der tatsächliche Sieger war Thomas Hicks (ebenfalls USA). Er kam nach 3 Stunden, 28 Minuten und 53 Sekunden ins Ziel. Bis heute gilt diese Zeit als schlechteste Siegerzeit eines olympischen Marathons überhaupt.
Zur Ehrrettung von Hicks muss man allerdings sagen, dass die Bedingungen katastrophal waren. Dopingregeln gab es damals noch nicht. Deshalb versuchten seine Betreuer ihn während des Laufs immer wieder mit kleinen Dosen Strichnin (heute als Rattengift bekannt) und nicht so kleinen Schlücken Brandy aufzuputschen. Ergebnis: Mit Alkohol und Gift im Blut musste Hicks von seinen Betreuern letztlich ins Ziel getragen werden. Seine Beine zuckten dabei in der Luft in einem Rhythmus als würde er immer noch laufen.
Dass es trotzdem für den Sieg reichte, lag auch daran, dass nur 14 Athleten überhaupt das Ziel erreichten. Auf den Straßen lag eine zentimeterdicke Staubschicht, die durch Begleitpferde und Fahrzeuge aufgewirbelt wurde. Einige Sportler mussten mit Hustenanfällen aufgeben. Außerdem gab es auf der 39 Kilometer langen Strecke (die Distanz war noch nicht so einheitlich festgelegt) nur eine einzige Wasserstation – und das bei einer Temperatur von 32 Grad.
Kein Wunder also, dass der Kubaner Andarín Carvajal gerne zugegriffen hat, als er zwei Äpfel an der Strecke fand. Dumm nur für ihn: Die Äpfel waren verfault und ungenießbar. Das führte zu üblen Magenkrämpfen und letztlich dazu, dass Carvajal eine Schlafpause zur Erholung am Straßenrand einlegte. Trotz der Pause und der Krämpfe erreichte er letztlich noch einen beachtlichen vierten Platz.
Das war auch deshalb möglich, weil einige Konkurrenten noch mehr Pech hatten als Carvajal. Einer der Favoriten vor dem Start war Len Tau aus Südafrika (damals noch britische Kolonie). Tau erreichte das Ziel nur als Neunter, weil er unterwegs von aggressiven Hunden verfolgt wurde, die ihn fast 2 Kilometer vom Kurs abbrachten. Er musste danach mit einigem Aufwand den Weg zur Laufstrecke zurückfinden.
Ob sich all diese völlig abstrus klingenden Ereignisse wirklich genau so zugetragen haben, ist 117 Jahre nach dem Geschehen natürlich schwer zu verifizieren. Doch die Kuriositäten rund um den Marathonlauf bei den Olympischen Spielen 1904 in St. Louis sind auf mehrere verschiedene Quellen gestützt und wer sich mit unpopulären Sport genauer beschäftigt, der gelangt schnell zu der Überzeugung: Unpopulärer Sport war schon immer für kuriose Geschichten gut!